Merger und Akquisitionen 2022 im ECM-Umfeld

Mit Ausnahme der Übernahme von Micro Focus durch OpenText war das M&A-Geschehen im ECM-Umfeld eher moderat. Als strategisch interessante Felder, die Gründe für Übernahmen darstellten, erwiesen sich E-Government-Lösungen sowie Künstliche Intelligenz (KI) und Prozessautomatisierung.

Übernahmen können Wachstum und Nachfolge sichern - auch im ECM-Umfeld (Bild: A. Stadler)

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Übernahmen können Wachstum und Nachfolge sichern - auch im ECM-Umfeld (Bild: A. Stadler)

Moderates Merger- und Akquisitionsgeschehen

Krisen können nicht nur die Geschäftsentwicklung, sondern auch die Merger- und Akquisitions-Aktivitäten dämpfen. Nach dem Corona-Krisenjahr 2021 gab es auch im vom Ukraine-Krieg geprägten ablaufenden Jahr 2022 nur moderate Veränderungen. Ausnahme hiervon ist die im August angekündigte Übernahme des britischen börsennotierten Softwareunternehmens Micro Focus durch den internationalen ECM-Marktführer OpenText für etwa 6 Milliarden Dollar. Während Opentext einen Jahresumsatz von 3,5 Milliarden Dollar vorweist, kommt Micro Focus auf immerhin 2,7 Milliarden Dollar. Auch bei der Anzahl der Mitarbeitenden sind beide Unternehmen nicht allzu weit voneinander entfernt: Opentext verfügt über rund 14.800 Beschäftigte und Micro Focus über etwa 11.000. Die Produkte von Micro Focus unterstützen Unternehmen in den Bereichen Cybersicherheit, IT-Betriebsmanagement, Applikationsentwicklung sowie Kommunikation und Messaging.

Opentext will Micro Focus übernehmen

Bei den Anlegern von Micro Focus sorgte das Kaufangebot für Freude: Nach der Bekanntgabe sprang der Kurs des Software-Spezialisten an der Londoner Börse um 93,5 Prozent nach oben auf 518,40 Pence. Opentext erklärte sich am 26. August bereit, 532 Pence je Aktie zu zahlen – etwa doppelt so viel wie den damaligen Vortages-Schlusskurs von 268 Pence. Der günstige Wechselkurs des britischen Pfundes könnte wie bei anderen Tech-Übernahmen den Appetit von Opentext für diesen Deal angeregt haben. Doch für die Opentext-Anleger war die Nachricht wohl nicht so erquickend: Der Kurs von Opentext sackte von 37,36 Dollar auf knapp 25 Dollar ab und liegt aktuell bei nicht ganz 30 Dollar. Um die Übernahme zu finanzieren, hat Opentext im November ein Schuldenfinanzierungspaket von 4,585 Milliarden Dollar abgeschlossen. Vorbehaltlich der behördlichen Genehmigungen und der üblichen Abschlussbedingungen wird der Abschluss der Akquisition für das erste Kalenderquartal 2023 erwartet.

Im Gegensatz zu Opentext hielt sich ECM-Konkurrent Hyland in diesem Jahr komplett aus dem M&A-Geschäft heraus. 2020 hatte das im Privatbesitz befindliche US-Softwareunternehmen mit Learning Machine, Streamline Health ECM, Another Monday und Alfresco noch vier Unternehmen und 2021 mit Nuxeo ein Unternehmen übernommen.

E-Government-Sektor als lukrativer Markt

Zwar ist auch der öffentliche Sektor – besonders Städte und Gemeinden – von den aktuellen Krisen betroffen, doch gesetzliche Vorgaben und ein Rückstand in Sachen Digitalisierung treiben entsprechende Investitionen an. Um hier den Digitalisierungsbedarf gemeinsam zu decken, haben sich im Januar E-Government-Spezialist MACH und der ebenfalls im öffentlichen Sektor agierende Hersteller Form-Solutions zusammengeschlossen. Mit der ein Jahr zuvor erworbenen DATA-PLAN entstand mit Unterstützung des Investors Main Capital Partners ein Verbund aus E-Government-Spezialisten: die machgruppe. Im deutschsprachigen Raum adressiert sie Verwaltungen von der kommunalen bis zur Bundes-Ebene, Kirchen, Nichtregierungs- und Wohlfahrtsorganisationen sowie Einrichtungen in Lehre und Forschung. Ziel ist Kernprozesse der öffentlichen Verwaltung zu digitalisieren und automatisieren. Allerdings agieren Mach, Data-Plan und Form-Solutions auch weiterhin eigenständig.

Im ECM-Umfeld unternahm Ricoh in diesem Jahr zwei Akquisitionen von strategisch sehr unterschiedlicher Natur: sozusagen einmal vorwärts- und einmal rückwärts-gewandt. Mit Blick nach vorne übernahm der japanische Hard- und Software-Konzern im Februar das Schweizer Softwareunternehmen Axon Ivy, das eine Plattform zur digitalen Prozessautomatisierung bietet. Mit Low-Code/No-Code-Unterstützung dient sie Kunden zur Automatisierung und Orchestrierung von Geschäftsprozessen. Für Ricoh bedeutet die Akquisition einen weiteren Schritt, um den ehemals Drucker-orientierten Unternehmensbereich als breiteren Anbieter von Digitalisierungslösungen umzubauen.

Ricoh kauft klassische und trendige Technologie

Für die Digitalisierung ebenfalls wichtig aber nicht ganz so zukunftsträchtig ist der Zukauf der Scanner-Sparte PFU von Fujitsu zu sehen. Zwar boomt das Geschäft mit Dokumentenscannern seit der Pandemie geradezu, aber das wird nicht so bleiben. Die Digitalisierung frisst ihre eigenen Kinder – irgendwann sind alle Altakten digitalisiert, der Eingang neuer Papierdokumente wird immer geringer. Daher waren die PFU-Anteile für Fujitsu langfristig wohl uninteressant. Dagegen erhofft sich Ricoh vermutlich, dass die PFU-Kunden, die ja den ersten Schritt zu digitalen Workflows bereits gemacht haben, auch Ricoh-Kunden für alle weiteren Digitalisierungsprodukte und –services werden. Unter diesem Gesichtspunkt sind die rund 600 Millionen Euro, die als Kaufpreis  für PFU genannt wurden, dann doch als Investition in die Zukunft zu sehen. Und Fujitsu konnte so sogar noch etwas Kasse machen, während sich der japanische Konzern Panasonic 2021, ohne Veräußerungsgewinne zu erzielen, aus dem Scanner-Markt zurückzog.

Wiederum eine eindeutig zukunftstechnische ausgerichtete Übernahme im Wachstumsbereich KI und Automatisierung ist die Akquisition des NLP-Spezialisten Reinfer durch RPA-Anbieter UiPath, die im August bekannt wurde. Die Technologie für Natural Language Processing (NLP) von Reinfer erlaubt UiPath sein Angebot um Communications Mining zu erweitern. Damit sollen Software-Roboter von Uipath nun den Kontext und die Semantik von E-Mails, Online-Chats und Gesprächen verstehen und analysieren können. Hierzu will UiPath die NLP-Technologie von Reinfer mit seinen Document-Understanding- und KI-Produkten kombinieren und so die Bandbreite der bereits möglichen KI-gestützten Automatisierung erweitern.

Übernahmen mit Schweizer und österreichischer Beteiligung

Unternehmen aus dem alpenländischen Nachbarraum Österreich und Schweiz haben ebenfalls im M&A-Bereich mitgemischt. So hat im Juli das österreichische IT-Unternehmen COUNT IT Group die in München ansässige letterscan übernommen. Für Count IT, die auf die Bereiche ECM, ERP, Cloud und Individualsoftware spezialisiert ist, begann damit eine Expansion über die Grenzen Österreichs hinaus. Die 2013 gegründete Letterscan ist als Scandienstleister und als ECM-Systemintegrator aktiv. Sowohl Count IT als auch Letterscan setzen im ECM-Bereich auf die Lösungen des Herstellers d.velop und auch bei den avisierten Branchen gibt es Überschneidungen. Schwerpunktmäßig bedienen beide Unternehmen die Immobilienwirtschaft und Steuerberater.

Anfang September gab das österreichische Softwareunternehmen für digitales Dokumenten-, Prozess- und Aktenmanagement Fabasoft AG bekannt, die Schweizer 4teamwork AG mehrheitlich zu übernehmen. 4teamwork mit Hauptsitz in Bern und Standorten in St. Gallen und Luzern ist auf digitale Geschäftsprozesse öffentlicher Verwaltungen spezialisiert. In diesem Bereich hat Fabasoft bereits einige Projekte gewinnen können, wie beispielsweise die Einführung eines Dokumentenmanagement-Systems im Land Hessen.

Gelegenheiten für Finanzinvestoren

Michael Specht (3i) Matthias Lemenkühler (xSuite) Ulf von Haacke (3i) Richard Nagorny (xSuite) Thomas Radestock (xSuite) Andreas Nowottka (xSuite) (vlnr) (Bild: xSuite Group)

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Michael Specht (3i) Matthias Lemenkühler (xSuite) Ulf von Haacke (3i) Richard Nagorny (xSuite) Thomas Radestock (xSuite) Andreas Nowottka (xSuite) (vlnr) (Bild: xSuite Group)

Für Finanzinvestoren bot der ECM-Sektor 2022 ebenfalls Chancen: Im Sommer hat die xSuite Group die britische Beteiligungsgesellschaft 3i Group als neuen Investor für sich gewinnen können. Parallel reinvestieren die bisherigen Eigentümer als Minderheitsgesellschafter, bei denen es sich um das Management-Team von Xsuite sowie das Beteiligungsunternehmen Pinova Capital handelt. Pinova wurde 2007 in München von ehemaligen 3i-Managern gegründet, so dass sich die alten und neuen Gesellschafter aus vergangenen Tagen recht gut kennen. Das Kerngeschäft von Xsuite ist die Automatisierung dokumentenbasierter Geschäftsprozesse in SAP. Der Schwerpunkt besteht in der automatisierten Eingangsrechnungsverarbeitung, die um angrenzende Fachthemen wie Beschaffungsprozesse ergänzt wird. Mit dem Kapital dieser Investitionsrunde will das Ahrensburger Unternehmen mit internationalen Tochtergesellschaften unter anderem in Singapur, der Slowakei und Spanien den nordamerikanischen Wachstumskurs beschleunigen. Zudem plant 3i seine neue Beteiligung Xsuite beim Übergang zu mehr Einnahmen aus Software im Abonnement-Modus zu unterstützen.

Die kompletten Anteile des Unternehmens hat im September die GSG GENIE Software Group beim Software-Hersteller für die Omnichannel-Kundenkommunikation Compart übernommen. Dies geschah rund ein Jahr nach dem Ausscheiden des Firmengründers und Inhabers Harald Grumser aus dem operativen Geschäft. Die Geschäftsführung unter der Leitung von CEO Wolfgang Köster soll Compart innerhalb der GENII selbständig unternehmerisch weiterführen. Compart-Mitgründer Christoph Mayer ist in seiner gewohnten Position als Forschungsleiter im Unternehmen geblieben.

Übernahmen im Dezember

Kurz vor dem Jahresende übernahm der Schweizer Softwarehersteller Kendox den etablierten deutschen Hersteller DM Dokumenten Management. DM Dokumenten Management gehört zu den relativ frühen Akteuren im ECM-Umfeld und bietet mit »lobodms« bereits seit über 25 Jahren ein Dokumentenmanagement-System an. Während Kendox sein Produktportfolio in den letzten Jahren cloud-fähig aufgestellt hat, fokussierte sich DM Dokumenten Management auf die funktionelle Erweiterung und Ausrichtung auf Branchen, die weniger cloud-affin sind. So sind auch die Stammprodukte »lobodms« und »loboecm« klassische On-Premises-Produkte. Sie sollen in diesem Bereich weiterentwickelt werden und über Migrationstools an die Cloud-Welt von Kendox andocken können. Die Kendox Firmengruppe wächst durch die Einbindung der DM Dokumenten Management auf über 130 Mitarbeitende, die an insgesamt fünf Standorten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Serbien mehr als 1.500 Unternehmenskunden aller Größenkategorien und Branchen betreut. Der kombinierte Umsatz beträgt knapp 15 Millionen Euro.

Im Dezember hat auch d.velop noch eine Übernahme getätigt. Der Softwarehersteller aus Gescher übernahm 74,9 Prozent der Anteile der Mobile-App-Schmiede opwoco, die ebenfalls im Münsterland beheimatet ist. Durch diese Beteiligung will Dvelop die Ausrichtung des Unternehmens auf mobile Content Services Apps intensivieren. Der Software-Dienstleister und Entwickler für Mobile Apps Opwoco wurde 2011 als GmbH gegründet. Die Schwerpunkte liegen in der Entwicklung von mobilen Individual-Apps, dazugehörigen Backends und Schnittstellen sowie damit verbundenen Services. Das Leistungsspektrum reicht von kleinen Beratungsprojekten bis hin zu maßgeschneiderten Komplettlösungen in Apple- und Google-Umgebungen. Für Dvelop ist Opwoco eine wichtige Verstärkung zur Bereitstellung mobiler Lösungen. In den vergangenen Jahren hat Dvelop viel investiert, um Content Services zur Digitalisierung von dokumentenbasierten Geschäftsprozessen in einer mehrmandantenfähigen Software-as-Service-Architektur zur Verfügung zu stellen.

About the Author: Annette Stadler

Annette Stadler ist IT-Journalistin und leitet das Online-Portal ECMGUIDE.