Interview mit DMS- und ECM-Berater Bernhard Zöller

Wie hat sich die Anbieterlandschaft in den letzten fünf Jahren aus Ihrer Sicht geändert?

Bernhard Zöller (Bild: Zöller & Partner)

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Bernhard Zöller (Bild: Zöller & Partner)

Zöller: Die kleinen und mittelständischen Anbieter sind größer geworden, die Global Player IBM und OpenText sind im boomenden KMU-Markt noch nicht angekommen. Die in Deutschland einzigartige Vielfalt an Herstellern und Anbietern – nach unserer Wahrnehmung gibt es diese Vielfalt auch nicht in den USA – hat sich nicht reduziert, was Fluch und Segen gleichzeitig ist. Fluch, weil es für Anwender schwierig ist, einen Überblick zu bekommen. Segen, weil in einem solchen dicht besetzten Markt nicht nur ein Preis- sondern auch ein sehr nützlicher Funktionswettbewerb stattfindet. Der führte dazu, dass viele mittelständische Lösungen über eine bereits im Standard umfangreiche Funktionalität verfügen, von der sich so mancher Großer eine dicke Scheibe abschneiden darf. Auch immer wieder eine Lektion für viele Anwender: Microsoft SharePoint ist eine gute und weit verbreitete Collaboration-Plattform. Aber das ist ein anderer Markt als der hier beschriebene. Für das Einsatzfeld DMS/Akte/Archivierung ist Sharepoint bestenfalls eine Basisplattform, die durch Partnerlösungen ergänzt werden muss, um in dem Einsatzfeld nutzbar zu sein.

Gerade das Thema Cloud hat seit der Veröffentlichung Ihrer letzten DMS-Marktübersicht stark an Popularität zugelegt. Wie spiegelt sich dies bei den DMS-Lösungen wider?

Zöller: In der Anzahl der Cloud-Angebote. Wenn ein Anbieter von diesem Trend profitieren will, genügt es nicht, einfach nur sein System ins Rechenzentrum zu stellen und als Hosting-Angebot verfügbar zu machen. Cloud heißt eben auch eine Multimandanten-Umgebung – und »Multi« bedeutet Hunderte oder Tausende, nicht zwei oder drei – zu haben, mit Tausenden von Admins, von denen jeder eine eigene Anwendungsumgebung pflegen will. Und es bedeutet Funktionalität, die ohne lokales, individuelles Skripten auskommt. Die Anwender erwartet eigentlich eine komplette, rein Browser-basierte Funktionalität, die ohne lokale Installation und ohne lokale Patches, Releasewechsel etc. auskommt – also auch keine Ribbons in MS Office, die Metadaten auslesen oder Systemerweiterungen, die ein OCR-Lasso um einen Bildschirminhalt erzeugen. Hat man aber eine solche Cloud-fähige Lösung, adressiert man einen sehr großen Markt mit vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen und Organisationen, die den Aufwand für die On-Premise- Installation und die eigenen Betriebsaufwendungen scheuen.

Welche Funktionen sind ansonsten in den letzten Jahren hinzugekommen?

Zöller: Mobile, offline sowie native Apps für Tablets und Smartphones. Zunehmend wollen auch Knowledge Worker bis hin zu Führungskräften die Vorteile einer DMS-/ECM-Lösung nutzen, statt in Papier- oder Gruppenlaufwerken zu wühlen. Das bedeutet aber auch, dass es neue Anforderungen bezüglich der Endgeräte (Offline/Mobile, Tablets) und bezüglich der Benutzerergonomie gibt. Wer eine DMS-Lösung nicht jeden Tag acht Stunden sondern vielleicht nur gelegentlich nutzt, akzeptiert keine funktionsüberladene, nicht-intuitive Oberfläche. Ansonsten sind Kernfunktionen moderner Komplettlösungen wie Integration in MS Office und Outlook, kombinierte Volltext- und Attributsuche sowie E-Akten mit Aktentemplates immer weiter verbessert worden.

Gibt es Funktionen, die an Bedeutung verloren haben?

Zöller: »Archivierung« wird als Selbstverständlichkeit gesehen, auch wenn es eine wichtige Kernanforderung geblieben ist. Aber es ist halt schon lange nichts Interessantes mehr. Server-basierte Email-Verschlankung und E-Mail-Journal-Archivierung sehen wir nicht mehr so häufig, weil ein DMS eine exzellent geeignete Ablageumgebung für alle Arten von Unterlagen, inklusive E-Mail ist. Wenn ein Anwender Journal-Archivierung betreibt, muss man mal fragen: Haben Sie auch ein Fax-Archiv? Unsere Meinung dazu: E-Mail ist nur ein Transportsystem und eine rechtliche relevante Unterlage gehört zum Sachverhalt abgelegt, egal auf welchem Transportweg (Papier, Fax, EDI, Mail) sie kommt oder geht. Wenn man das so definiert, kann man sich immer noch überlegen, ob aus Compliance-Gründen eine Journalisierung aller Mails notwendig ist: Dabei aber bitte berücksichtigen: Wenn private Mail noch erlaubt ist, benötigt man eine Lösung, personenbezogene Unterlagen selektiv aus dem Journal-Archiv zu finden und zu löschen. Und die Mail-Properties – und nichts anderes dient zur Attribuierung in einem Journal-Archiv – sind dafür häufig nicht gut genug. Ebenfalls schwindende Bedeutung: TIFF. Dieses betagte, seit 1992 nicht mehr aktualisierte Format wurde für die Archivierung schon längst durch PDF oder PDF/A abgelöst und für lebende Dokumente werden natürlich alle Arten von Dokumentformaten verwaltet. Wer also nur TIFF /PDF verwaltet, hat eine für viele Anwendungsfälle nicht akzeptable Einschränkung.

Lösungen sind ausgereift, trotzdem gibt es Verbesserungspotenzial

Wo sehen Sie noch Lücken in den Angeboten der Hersteller?

Zöller: Obwohl seit über 20 Jahren über Workflow gesprochen wird, sind die Workflow-Funktionalitäten, sowohl für die strukturierten/repetitiven Abläufe als auch für Adhoc-Workflow bei vielen Anbietern noch sehr dürftig. Was man da manchmal als Demo vorgesetzt bekommt, zeigt eigentlich nur, dass der Anbieter diese Lösungen in der Praxis nicht einsetzt. Auch mangelt es an Customizing-Werkzeugen für das Einrichten vieler Systemeinstellungen. Das zwingt den Kunden häufig bei einfachsten Änderungen, viel Geld in die Hand zu nehmen, um die Anpassungen durch einen teuren Experten des Anbieters vornehmen zu lassen. Auch eigentlich banale Anforderungen, wie beispielsweise die Dublettenverhinderung bei E-Mail-Ablagen, die über Verteilermails ins Haus kommen – und Nein, Hashwert-basierte Dublettenerkennung funktioniert hier nicht! – ist bei über der Hälfte der Anbieter nicht wirklich verfügbar. Da fragen wir uns schon manchmal, ob manche Anbieter vielleicht immer noch in der Scan-/TIFF-Archivwelt von vor 20 Jahren leben. Zum Glück gibt es genügend Alternativen auf dem Markt. Es sind viele solcher Detailfunktionen, die das Leben der Anwender erleichtern könnten, in manchen Produkten aber schlichtweg nicht vorgesehen sind und dann aufwendig programmiert werden müssen, falls das überhaupt geht. Und das ist das Problem der Anwender: Sie wissen nicht, welche Funktionen sie im Vorfeld hätten abfragen müssen und dann feststellen, dass diese fehlen.

Gibt es weitere Lücken, die auf dem ersten Blick vielleicht nicht auffallen?

Zöller: Funktionale Lücken sehen wir auch noch bei vielen Mobile/Offline/nativen Apps für Tablets. Alle Anbieter haben Folien dazu und ein paar einfache Demo-Szenarien, die Produktfunktionalität ist aber bei vielen eher noch Version 0.9. Das halten wir aber nur für ein temporäres Problem. Wenn der Markt diese Funktionen fordert und auch bezahlt und nutzt – und nicht nur darüber redet – werden die Anbieter entsprechende Angebote machen.

Welche Funktionen sind das, die diesen Apps fehlen?

Zöller: Viele Details. Drag and Drop aus dem EMail-Client oder dem File-System in die Akte funktioniert nicht mehr. Erst mit iOS 11 kam eine Drag-and-Drop-Funktion, die man aber erst verstehen muss und die alle Anbieter erstmal implementieren müssten. Auf den Tablets läuft dann auch nicht mehr das normale MS Office mit DMS-Ribbons etc., sondern eine komplett andere Software, die vielleicht nur ähnlich heißt. Das ganze Arsenal an Bearbeitungs- und Redaktionsfunktionen ist gar nicht oder nur eingeschränkt verfügbar. Multi-Format-Viewer für 450 native Formate? Nicht im Offline-iOS- oder Android-Tablet. Aus der Trefferliste der Akte Dokumente als Attachment per Tablet-Mail-Client verschicken? Fehlanzeige. Eine native Tablet-Umgebung ist halt architektonisch etwas komplett anderes und manche Dinge sind vom Tablet-Hersteller auch weder gewünscht noch erlaubt: Beispielsweise das Übertragen von Daten des Herstellers A (Textverarbeitung) in die Anwendung des Herstellers B (DMS-Akte).

Was bereitet in der Praxis sonst noch Probleme?

Zöller: Das größte Problem – seit Jahren – sind die Lücken bei den personellen Ressourcen, die im Post-Sales – also bei Implementierung, Customizing und Programmierung zur Verfügung stehen. Qualifiziertes Personal, welches sich mit den Produkten auskennt und konzeptionelle Talente hat und nicht nur Skripten kann, ist eine rare Spezies. Und darunter leiden die Projekte. Die Anwender sollten daher zwingend bereits bei der Systemauswahl darauf achten, wer nachher die Lösung implementiert und darauf bestehen, dass ein sinnvoller Projektplan ausgearbeitet wird, der transparent ausweist, welche Ressourcen mit welchen Einsatz welchen Arbeitspaketen zugeordnet wird.

Können Sie aus Ihrer Erfahrung als ECM-Consultant auch sagen, wie sich die Anforderungen der Anwender gewandelt haben?

Zöller: Ich denke man muss unterscheiden zwischen großen Unternehmen und KMU-Anforderungen. Große Unternehmen haben neben den funktionalen Anforderungen zunehmend auch Anforderungen an die »Enterprise-Fähigkeit« der Lösungen. Dazu gehören Multi-Plattform / Architekturanforderungen Client-Tier und Middle-Tier, Skalierbarkeit, Hochverfügbarkeit (24/7) und Backup, Virtualisierung, Einsatz von Citrix oder Windows Terminal Server, Transportsystem/Staging, Unicode, Mehrsprachigkeit, dezentrale Standorte (und Replikation), Client-Software-Verteilung, Mandantenfähigkeit und individuelle Programmierbarkeit sowie Integrationsfähigkeit mit dokumentierten APIs auf Basis WebServices. KMUs mögen auch solche Anforderungen haben, aber hier sehen wir sehr viel häufiger Anforderungen wie einfache Installation und Betrieb, Komplett-Funktionalität inklusive Archiv, DMS, Akte, Workflow ohne Integrationsnotwendigkeit externer Komponenten, regulatorische Konformität ohne Zusatzkomponenten (Signatur, Speicher etc.), Fachadmin-geeignete Customizing-Werkzeuge, anpassbare Lösungstemplates für E-Akte und Workflow, Standard-Schnittstellen zu führenden Fachverfahren (häufig nicht SAP), Berücksichtigung regionaler / vertikaler Besonderheiten statt Eigenentwicklung und GU-Fähigkeit des Anbieters.

Im DACH-Raum gibt es für Mittelsändler große DMS- und ECM-Auswahl

Wie gut schätzen Sie das Angebot für mittelständische Unternehmen ein?

Zöller: Ich denke, es gibt kein anderes Land, in dem es so viele, sehr funktionale DMS-/ECM-Systemangebote für mittelständische Anforderungen und – auch wichtig – mittelständische Budgets gibt wie in Deutschland. Diese hohe Wettbewerbsdichte ist für die Anbieter sicherlich ein Problem, für die Anwender hat es mehr Vor- als Nachteile.

Worauf sollten diese bei der Auswahl vor allem achten?

Zöller: Neben der Architektur und Funktionalität auf die Frage: Passt es in die eigene IT und kann es dort dauerhaft betrieben werden? Außerdem müssen die Dienstleistungskosten im Auge behalten werden. Bereits bei mittelständischen Anwendungen sind die Dienstleistungsaufwendungen ein signifikanter Anteil der Gesamtprojektkosten, nicht selten die Hälfte und mehr. Das muss bei der Anbieterauswahl bereits berücksichtigt werden. Weitere wichtige Kriterien sind Ergonomie der Client-Komponenten – das kann man nicht abfragen, das muss man sich mit geeigneten Use-Cases anschauen, Verfügbarkeit von Fachadmin-fähigen Customizing-Werkzeugen und – wie oben bereits beschrieben: Erfahrung des zugeordneten Personal in der Implementierungs- und Einführungsphase.

Woran erkennt man wie zeitgemäß ein DMS-System ist?

Zöller: Man kann sich die Architektur unter der Haube anschauen. Man kann prüfen, ob im Maschinenraum nicht mehr zeitgemäße Komponenten arbeiten wie proprietäre Datenbanken, ISO-Container, ActiveX Controls, Flash oder Silverlight auf der Client-Seite, proprietäre Skript-Sprachen zur Anpassung und so weiter. Man sollte sich vom Anbieter auch eine Roadmap für die nächsten Jahre aufzeigen lassen, um zu verstehen, wohin sich die Lösung architektonisch und funktional bewegt. Wer auf der Roadmap nur noch Bugfix-Releases hat, darf sich vorwerfen lassen, vielleicht nicht mehr viel Geld in die Weiterentwicklung zu investieren.

Welche Veränderungen gibt es im Kostenaufwand für den Einsatz eines DMS-Systems?

Zöller: Da sehen wir in den letzten fünf Jahren keine wesentlichen Änderungen, wenn man in der Zielgruppe bleibt. Cloud-Angebote adressieren eine Zielgruppe, die aus Aufwandsgründen keine eigene Lösung betreiben möchte, dafür aber bereit sind, ihre Prozesse zu vereinfachen. Bei den meisten OnPremise-Lösungen ist der Dienstleistungsanteil mindestens so hoch wie der Lizenzanteil, manchmal sogar signifikant höher. Hardware-Komponenten wie Speicher, Scanner, Bandbreite in den Netzen, Server-Performance etc. sind natürlich deutlich preiswerter geworden, aber Hardware macht in den meisten Projekten nur einen geringen Teil der Gesamtprojektkosten aus.

About the Author: Annette Stadler

Annette Stadler ist IT-Journalistin und leitet das Online-Portal ECMGUIDE.